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Asperger oder Anarchie

Seit über 450 Jahren ist er nun schon tot, Michelangelo, einer der bedeutendsten Bildhauer, Maler und Baumeister der Menschheit. Und dennoch öffnet sich immer wieder eine neue Tür, die einen weiteren, einen anderen Blick auf sein Werk, seinen Schaffensprozess und auf seine Person selbst frei gibt. Einen Blick, der in vielen Bereichen zeitlose Fragen stellt und, bisweilen auch beantwortet. 

 

Zeitgenossen beschrieben dieses kreative Genie als einen „unnahbaren Einzelgänger“, isoliert, jähzornig und scheinbar gefühllos. Außer seiner eigenen Kunst hatte er kaum Interessen. Längere Gespräche waren ihm gar so zuwider, dass er seine Gesprächspartner bisweilen mitten in der Unterhaltung stehen ließ. Er folgte zwanghaft bestimmten Ritualen, hatte keine Freunde, versuchte jeden Aspekt seines Lebens zu kontrollieren und seine Sorgen galten stets nur der eigenen privaten Realität.  Es scheint, als hätte man es mit jemandem  zu tun gehabt, den wir heute als in hohem Maße sozial inkompetent und gleichzeitig partiell hochbegabt bezeichnen würden und über dessen überliefertes Verhalten sich die Wissenschaft im 21. Jahrhundert, aus dem Blickwinkel der Psychologie, noch eimal neue Gedanken macht, sich an neuen Deutungen versucht. 

 

So veröffentlichte das „Journal of Medical Biographie“ im Mai 2004 eine Theorie der beiden Wissenschaftler Muhammad Arshad und Prof. Michael Fitzgerald, wonach Michelangelo Buonarroti am Asperger Syndrom gelitten habe, einer leichten Form des Autismus.  Diese Menschen verfügen oft über besondere Talente für Kunst, Musik oder Mathematik, sind jedoch andererseits in ihrer Kommunikationsfähigkeit sehr begrenzt, haben wenige, sehr fokussierte Interessen und meist einen, zumindest als ungewöhnlich zu bezeichnenden Lebensstil. Aber ist diese, fast 450 Jahre nach seinem Tod gestellte und nur bedingt verifizierbare Diagnose, die einzige mögliche Erklärung für das wenig offene und ruppige Verhalten des Ausnahmekünstlers? Sheldon Coopers Demarkationslinien ähnlich derer zu Michelangelo Buonarrotis  selbst konstruiertem Gerüst in der Sixtina, das Niemand außer ihm selbst, bis auf die aller notwendigsten, rein technischen Gehilfen,  betreten durfte? Kann es nicht sein, dass dieses Verhalten, in einer Zeit, wo die Meister eines Werkes erst Stück für Stück in persona hervortraten, notwendiger Schutz war? 

 

Gar eine Art gewaltloser Anarchie des Genies, gegen die Einschränkungen und Einmischungen in die Kunst, von Seiten der Herrschenden in Stadtstaat und Kirche? Schutz vor „Werksspionage“, Schonraum für eine bildende Kunst, bei der man endlich von Autonomie derselben, vom Eigentum des Künstlers an seinem Werk sprechen konnte?Nur im Zusammenhang mit der Epoche seiner Lebenszeit, ist eine Annäherung, ein Verstehens möglich. 

 

Die Renaissance, Zeit der Wiedergeburt des Menschenbildes der Antike, Zeit der Vergrößerung des Wissens über den Menschen selbst. Die Epoche der Menschheitsgeschichte, in der sich ein neuer Blick auf den Menschen, auf das Individuum entwickelt. Aber, auch immer noch die Zeit der Herrschaft Weniger, der Herrschaft der Könige, der Herrschaft der Kirche.  

 

Neu und durchaus neuen Raum erschaffend, jedoch auch die Zeit der Herrschaft des Bürgertums, der Reichen nicht adeligen oder klerikalen Klasse. Gewiß, noch lange nicht demokratisch und in den Stadtstaaten Italiens, den Wirkungsstätten Michelangelos, gar ein System, das wir heute Oligarchie nennen würden, jedoch aufbrechend, durchaus unverrückbar scheinende Grenzen verändernd. Vor allem aber auch die Zeit, in der Künstler nicht mehr länger nur schlichte Handwerker waren, nur anonymes, ausführendes Medium, das eine vermeintlich unverrückbare ewige Ordnung der Dinge sichtbar machen sollte.

 

Michelangelo, hoch anerkannter Künstler in jener sich neu bildenden Gesellschaft, war alles andere als erfreut, als er von Papst Julius II den Auftrag zur Gestaltung der Decke der Sixtina bekam. Er sah sich als Bildhauer, hatte seine letzten Erfahrungen mit Fresken in den Lehrjahren gemacht und empfand es als Zumutung, statt, wie eigentlich mit dem Papst vereinbart, bildhauerisch an dessen Grabmal zu arbeiten, eine Decke zu bemalen. Eine riesige, gewölbte Decke mit schlechten Lichtverhältnissen - nur weil Julius plötzlich mulmig dabei geworden war, das eigene Grabmal bereits zu Lebzeiten fertig zu stellen. 

 

Die Kirche, einer der größten Auftraggeber jener Zeit, konnte jedoch auch ein Genie nicht einfach so verprellen. Und, da war jemand, der ihm seinen Platz streitig machen konnte. Raffael, jener schöngeistige, gefällige junge Netzwerker, elegant und eloquent, mit  dem Michelangelo in Konkurrenzkampf um Perfektion und Ruhm stand und der, in unmittelbarere Nähe der Sixtina, just zu der Zeit, die Stanzen im Vatikanpalast malte. 

 

Michelangelo, der melancholische und selbstbestimmte Einzelgänger, der seine Werksentwürfe eifersüchtig behütete oder gar vernichtete, auf dass nur ja nichts außer dem fertigen Werk übrig blieb, musste den Auftrag für die Deckenfresken der Sixtina annehmen, auch, wenn er sehr offen zögerte. Und - er wollte darin gut sein, brilliant, fantastisch, neu. 

 

Er hätte es sich einfach machen können. Der Papst, nicht verwöhnt von der bisherigen Deckenmalerei, verlangte lediglich Bilder der zwölf Apostel und ein paar Ornamente. Michelangelo skizzierte diese Idee, verlor sehr schnell die Lust an dem, was ihm „allzu kümmerlich“ erschien, brachte dies wenig diplomatisch zum Ausdruck und hatte danach freie Hand. Und so klebte der störrische Asket vier Jahre unter der Decke und malte tatsächlich weitgehend was er wollte, konnte gar „unter dem Radar“ seine heimlich gewonnenen anatomischen Erkenntnisse in seine Bilder einbringen, genoß auf dem Gerüst soviel ästhetische Freiheit wie wohl kein anderer Künstler zu dieser Zeit und schuf sein größtes Kunstwerk. Jenes, das seinen Ruhm über alle Zeiten hinweg tragen sollte.  

 

Muss also der Wunsch nach möglichst großer künstlerischer Freiheit, nach Individueller Autonomie tatsächlich eine Kontaktstörung sein? War es hier nicht viel eher ein fast unentbehrlicher Schutz vor Störung einer authentischen Werkvollendung? 

 

Statt Asperger könnte man dies auch  zweckgebundenen Bedarfsautismus nennen.